Im ersten Corona-Winter 2020/21, als mit den sozialen Aktivitäten auch das Bühnenleben nahezu vollständig zum Erliegen gekommen war, und eine Welt im Lockdown mehr Zeit als auch sonst schon online und auf den sozialen Medien verbringen konnte, erschütterte ein Interview die französische Ballettwelt: der Direktor der Pariser Opéra, Alexander Neef, hatte sich in einem Interview mit dem Wochenmagazin der einflussreichen Tageszeitung Le Monde seine Unterstützung für Bemühungen ausgedrückt, die sich für eine diversere und inklusivere Ballettwelt einsetzen. Hintergrund hierfür war die Wahrnehmung, dass das klassische Ballett eine der letzten Hochburgen unangefochtener „weisser“ Vorherrschaft darstelle, wodurch nicht zuletzt Künstler mit aussereuropäischem Hintergrund marginalisiert oder gar abgeschreckt werden könnten. Die führende Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen nutzte die Gelegenheit sogleich, um sich auf Twitter neuerlich darüber zu empören, dass hier der Anti-Rassismus von „Pseudo-Progressiven … wahnsinnig geworden“ sei – mit tausenden von Likes. Und selbst der Chefredakteur von Le Monde, Michel Guerrin warnte angesichts von Neefs Interview, dass mit solch einer „Selbstzensur“ Frankreich schleichend den Weg einer vermeintlichen, amerikanischen „Cancel Culture“ gehen würde. Besonders schockierend erschien, dass von Neef’s Initiative auch die populären Versionen der Ballette Rudolf Nureyevs im Pariser Repertoire betroffen sein könnten, neben Schwanensee und dem Nussknacker auch seine Bayadère. Bereits wenige Jahre zuvor hatte eine ähnliche Initiative des damaligen Pariser Ballett-Chefs Benjamin Millepied letztlich sogar zu dessen Rücktritt geführt. Bei ihm ging es insbesondere um die hochproblematische Praxis des Blackfacings, also des Gebrauchs schwarzer Körper- und Gesichtsschminke für nicht-farbige Tänzer (sowie Schauspieler, Sänger…), nicht zuletzt in Rollen, die eher der Karikatur oder Verniedlichung dienen. Im Fall der Bayadère gilt das insbesondere für Mitglieder im Corps de Ballet, die den Tanz des Goldenen Idols im IV. Akt begleiten, sowie die „Danse des Negrillons“ (den „Tanz der kleinen Neger“). Diese in der Tat heute hochproblematischen Theaterpraktiken sind Teil eines weit größeren Problemfelds von Bühnenwerken gerade des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nämlich eines eng mit Rassismus und Kolonialismus verbundenen Weltbilds, für den sich der Oberbegriff des Orientalismus eingebürgert hat.
Wichtigster Autor für die Etablierung dieses Begriffs ist der Palästinensisch-Amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said. Sein 1978 erschienenes Buch Orientalism präsentierte ein breites Panorama von „westlichen Konzeptionen des Orients“ seit dem 18. Jahrhundert, wie der Untertitel verkündete. Dabei stützte er sich auf die Denkansätze des italienischen politischen Philosophen Antonio Gramsci, der als politischer Gefangener des faschistischen Regimes der Zwischenkriegszeit das Konzept der Hegemonie erarbeitete, um zu erklären, weshalb sich falsche Vorstellungen und selbst gemeingefährliche Ideen unter den Massen und nicht zuletzt unter intelligenten Menschen durchsetzen und etablieren können. Said verband Gramscis Einsichten mit Ansätzen des französischen Kulturwissenschaftlers und Philosophen Michel Foucault zur Bedeutung von Diskursen: unkonkreten, aber nichtsdestoweniger prägenden Kommunikationssystemen, die ihren Teilnehmern helfen, die Welt zu verstehen. Hierauf aufbauend, entwickelte Said eine einflussreiche Hypothese von „Orientalismus“ als einem Diskurs, der Westlern seit dem beginnenden Kolonialismus erlaubte, die erweiterte Welt zu erklären und sich der eigenen Überlegenheit nicht nur militärisch, sondern auch kulturell zu vergewissern. Ein solcher moderner Orientalismus war für Said untrennbar mit Kolonialismus, Imperialismus und letztlich Rassismus verbunden – insbesondere in Auseinandersetzung mit den eigentlich altehrwürdigen Kulturen und Reichen Asiens und des Nahen Ostens. Ein wesentlicher innovativer Aspekt Saids war, dass er dies weniger anhand von politischen, militärischen, oder wirtschaftlichen Aspekten verdeutlichte, sondern vor allem an wissenschaftlichen Arbeiten sowie Werken der Hochkultur, aus Kunst und Literatur, denen er eine zentrale Rolle für den langanhaltenden Erfolg dieses hegemonialen Diskurses zuwies. Letztlich ginge es in all diesen Werken im wesentlichen um „Repräsentationen als Repräsentationen, nicht um ‚natürliche‘ Darstellungen“ eines wie auch immer gearteten Orients‘, so der Wissenschaftler. Eines der Hauptmerkmale dieses so verstandenen modernen, imperialistischen Weltbildes im Westen war, den Orient maßgeblich als sowohl glänzend und erotisch-attraktiv, aber gleichzeitig auch als unstet, unbändig-emotional und grausam wahrzunehmen. Saids Buch wurde und wird vielfältig diskutiert, und hat sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Diskurse nachhaltig geprägt. Dieser Erfolg ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass kurz nach der Publikation von Orientalism der Nahe und Mittlere Osten, aber auch Asien insgesamt politisch wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit in Amerika und Europa rückten, mit der Islamischen Revolution in Iran, dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, dem Erstarken des Nahostkonflikts, bis hin zum Aufstieg der Taliban und dem Anschlag auf das World Trade Center am 9. September 2001. All diese Konflikte, zu denen getrost auch die schwierige Akzeptanz eines Wiederaufstiegs Chinas gezählt werden kann, sorgte denn auch dafür, dass in den vergangenen vierzig Jahren Fragen von Geopolitik, Globalisierung und Weltwirtschaft verstärkt mit solchen nach dem kolonialistischen Erbe Europas sowie der politischen Dimension von Zeugnissen der Hochkultur verbunden wurden, wie es gerade auch ein Ballett wie die Bayadère eines ist.
Freilich, so wichtig die Erkenntnis imperialistischer Zusammenhänge ist, die zweifelsohne viele Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägen, so wichtig ist es allerdings auch, gleichfalls nicht alles über einen Kamm zu scheren, und im Namen einer differenzierteren Betrachtung der Verschiedenheit der Kulturen Asiens im Gegenzug alle „Europäer“ mit der spezifischen Sicht des Britischen und Französischen Empires gleichzusetzen – eine Kritik, die zu Recht an Saids Werk geübt worden ist. Auch wenn in der 1877 uraufgeführten Bayadère verschiedene Einflüsse und Aspekte eines beginnenden imperialistischen Zeitalters bereits wahrnehmbar sind, so zeigt eine genauere Untersuchung, dass die Sachlage komplizierter ist. Die Entwicklung des Balletts, von seiner Uraufführung bis zu den verschiedenen Rekonstruktionsversuchen der letzten Jahre, zeigt ein komplexes, vielschichtiges, und nicht zuletzt dynamisches Kunstwerk. Dies muss auch Auswirkungen haben auf jede kritische Lesart. Es lassen sich anhand der Bayadère gewissermaßen vier verschiedene Formen von „Orientalismus“ (mit jeweils unterschiedlichen Funktionen) nachweisen, wie die nachfolgende Skizze belegen soll: die Zeit der St. Petersburger Uraufführung, die Phase der folgenden Einstudierungen bis zur Oktoverrevolution, dann die Ära Stalins, und schließlich die Wiederbelebung und kritische Auseinandersetzung der Gegenwart.
1. Märchenhafter Exotismus: Marius Petipas Uraufführungsversion
Der Vorhang zur Uraufführung hob sich am 4. Februar 1877 im St. Petersburger Mariinsky-Theater (23. Januar 1877 im damals noch in Russland gültigen Julianischen Kalender) nach sechsmonatiger, intensiver Vorbereitung. Der französische Choreograf Marius Petipa zog sämtliche Register eines Ballet à Grand Spectacle, basierend auf Anregungen durch eine ältere Pariser Choreografie seines Bruders Léon Petipa (Sacountala, 1858), aber auch auf Ideen, die nicht zuletzt durch Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere sowie das darauf basierende Ballett von Filippo Taglioni mit der Musik von Auber (Le Dieu et la Bayadère, 1830) auch in St. Petersburg wohlbekannt waren. Auch wenn in Petipas Bayadère weder die Choreografie noch Leon Minkus‘ Musik besonders ausgeprägt exotischer Natur waren, so boten Bühnenbild und Ausstattung insbesondere der ersten beiden Akte reichlich exotisches Spektakel, um ein fantastisches „Indien“ zu imaginieren (wie etwa der Feuertempel, Fakire, etc.). Die Inspiration hierfür kam von der spektakulären Berichterstattung über die mehrmonatige Indien-Reise des Prince of Wales in der Illustrated London News rund zwei Jahre zuvor, die europaweit für Aufsehen gesorgt hatte. In Großbritannien waren jene Reise und die Berichterstattung tatsächlich Teil imperialer Machtpolitik: das große, positive Echo bewog die britische Regierung kurz darauf, Königin Victoria zur „Kaiserin von Indien“ zu proklamieren. In einem russischen Kontext hingegen hatte dieses Indien zu diesem Zeitpunkt keinerlei imperiale Attraktivität, sondern repräsentierte nicht mehr (aber auch nicht weniger) als einen visuell ansprechenden, ja faszinierenden Exotismus, vergleichbar dem imaginären alten Ägypten in Petipas vorangegangenem Erfolgsballett Die Tochter des Pharaos (1862), oder dem mittelalterlichen Paris in seiner auf Victor Hugos Erfolgsroman Der Glöckner von Notre-Dame basierenden Esmeralda (zuerst 1866 und öfter). Ungeachtet der orientalisierenden Zutaten – das erotisierende Spiel mit den angedeuteten Verlockungen der Tempeltänzerinnen, die Grausamkeit des Radscha Dugmanta, die Eifersucht und Scheinheiligkeit des Großbrahmanen –; im Gegensatz zu Saids These hatten diese Elemente eher unkonkreten, unterhaltenden Wert, vergleichbar einer fantastischen Märchenhandlung. Die imperiale Rivalität mit Großbritannien des „Great Game“ um die Vorherrschaft in Süd- und Zentralasien lag im Frühjahr 1877 in Russland noch in weiter Ferne.
Wenn es zu diesem Zeitpunkt ein solches imperial-expansives Projekt des Zarenreiches gab, das sich auch kulturell niederschlug, dann war es vielmehr die Ausdehnung nach Süden und Südwesten: das Vordringen im Kaukasus sowie entlang der Schwarzmeerküste in Richtung Konstantinopel. Seit Peter dem Großen eroberte hier das Zarenreich Stück für Stück weite Gebiete, verleibte sich unter Katharina der Großen im späten 18. Jahrhundert den Kosakenstaat in der heutigen Ukraine ein, eroberte die Krim und verdrängte in den folgenden Jahrzehnten zunehmend das Osmanische Reich als Oberherrin im Kaukasus und auf dem Balkan. Insbesondere die muslimischen Völker der Tataren, Tscherkessen und Tschetschenen erlitten dabei nicht selten genozidale Unterdrückungen, welche zugleich in der russischen Literatur und Kunst als zivilisierende Befreiung von kultureller Rückständigkeit gefeiert wurden, etwa in Lermontovs Erzählung Der Dämon; hier unterschied sich die russische Kultur wenig von der britischen und französischen, wie Said sie analysiert hat. Das Indien in Petipas‘ Uraufführungs-Bayadère beschrieb hingegen eher eine exotisch-ferne Märchenlandschaft, wie auch die Münchner Produktion, angepasst an die Vorstellungen des 20. Jahrhunderts.
Mitte der 1870er-Jahre war es ein anderes imperiales Projekt, dass die Gemüter in St. Petersburg begeisterte, und das sehr bald schon große Wellen schlagen sollte. Nur zwei Monate nach der umjubelten Uraufführung der Bayadère eskalierte die lang-schwelende Balkankrise. Nicht zuletzt angetrieben von panslawistischen und großrussischen Ideen als Beschützerin aller Slawen und orthodoxen Christen nahm das Russländische Reich[1] (verstanden als multiethnischer Nicht-Nationalstaat) im April 1877 mangelndes Entgegenkommen des Osmanischen Reichs zum Vorwand, beim südlichen Nachbarn einzumaschieren; ein vorläufiger Friedensvertrag, geschlossen nicht weit vor den Toren der Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul), versetzte die europäischen Großmächte in Aufregung, und selbst der nachfolgende Berliner Kongress befriedigte niemanden (außer das junge Deutsche Reich und dessen Kanzler Bismarck, der sich als ‚ehrlicher Makler‘ feiern lassen konnte); aber die diplomatische Vereitelung eines möglichen russischen Ausgreifens bis nach Konstantinopel ließ Russland neue Expansionsmöglichkeiten weiter östlich suchen, und damit in direkte Konfrontation mit dem Britischen Kolonialreich geraten.
[1] Die Forschung hat in den letzten Jahren vermehrt auf den imperialen Charakter Russlands hingewiesen, weswegen sich die Übersetzung des Staatsnamens „Russländisches Reich“ (Rossiskaya) im Unterschied zum „Russischen Reich“ (Russkiy) langsam durchsetzt. Damit war der nicht-nationalstaatliche Charakter betont.
2. Imperiale Fantasie mit ethnografischer Verbrämung
Mit Russlands zunehmender Orientierung in Richtung Zentral- und Ostasien bekam seit den späten 1870er-Jahren „Indien“ mit allem, wofür es stand, eine deutlich politischere Bedeutung, auch in künstlerischer Hinsicht. Hinzu kam im entstehenden Zeitalter des Kolonialismus ein verstärktes Interesse an dokumentarischer, vermeintlich authentischer Darstellung, die die bisherige, romantisierend-märchenhafte Ästhetik überlagerte – diese vermeintliche Authentizität war aber ihrerseits nicht objektiv, sondern durchaus geprägt von vorgefassten Vorstellungen, um nicht zu sagen Vorurteilen. Gerade aber wegen dieser Selbstwahrnehmung im Kunstschaffen, das den Anspruch erhob, dokumentarische Aspekte auf der Bühne zu integrieren, bedeutete dies, dass nun auch fiktionale, vielleicht gar fantastische Kunstwerke wie eben La Bayadère eine deutlich politischere Dimension erhielten, mit Auswirkungen auch auf Inszenierung und Choreografie.
Für viele Jahre wurde La Bayadère ein Fixpunkt des Repertoires der Kaiserlichen Theater, erst im St. Petersburger Mariinsky-Theater, dann auch am Moskauer Bolschoi-Theater. Doch bedeutete dies keine statische Bewahrung der Uraufführungsfassung, sondern eine beständige Weiterentwicklung. Petipa selbst nahm verschiedentlich Veränderungen vor, die nicht nur bühnenpraktischen Gründen geschuldet waren. Insbesondere der berühmteste Teil des Werks, der „Schattenakt“, erfuhr hierdurch einen Bedeutungswandel. In der Uraufführung erschienen in Solors Traum mehr als siebzig ätherische, schattenartige Wesen, die unterstützt von Minkus‘ tranceartiger Musik langsam die verhangene Bühnenrampe hinunterstiegen; weiße Schleier an den Kostümen stellten eine deutliche Verbindung zum vorausgegangenen, vielfarbigen Festakt im Garten des Palastes her, und machten deutlich, dass es sich hierbei um ein fahles Echo der Szenerie von Nikijas Tod in Solors Traum handelte. Die Szene stand damit in der Tradition des Unheimlichen der Romantik, wie ja auch die Geister in Giselle oder La Sylphide keine harmlosen Schönheiten sind. In den Jahren nach der Uraufführung reduzierte Petipa selbst die Zahl der Schatten auf zweiunddreißig und kreierte ein Ensemblebild, das damit zu einem Gipfelpunkt klassizistischer Idealität aufstieg. Gerade dadurch aber erschienen die vorausgehenden Festszenen im Palast weniger als das lebenssatte Vorbild des fahlen Schattenaktes, sondern wurden zu eher folkloristischen Vor-Bildern des eigentlichen, mittlerweile epochemachenden „weißen Aktes“ in seiner zeitlosen Klassizität; der nachfolgende Hochzeitsakt mit der finalen Katastrophe und Apotheose erschienen gar mehr und mehr unbefriedigend, die organische Entwicklung der Handlung zerbrach.
Verstärkt wurde diese Tendenz durch choreografische Entscheidungen im Detail. Schon 1904, noch zu Petipas Lebzeiten, brachte Alexander Gorsky La Bayadère am Moskauer Bolschoi-Theater heraus. Er benutzte zwar die Bühnenbilder der St. Petersburger Uraufführungsfassung, doch legte er mehr Gewicht auf gestischen Realismus. Gorsky war hiermit nicht allein. Unter dem noch recht jungen Zaren Nikolaus II. wurde die russische Autokratie zunehmend von Krisen erschüttert, denen sie wenig entgegenzusetzen hatte, ein märchenhafter Koloss auf tönernen Füßen; während der Revolution 1905 sollten selbst die kaiserlichen Ballettcompagnien von Streiks lahmgelegt werden. „Das Volk“ des russländischen Vielvölkerstaats rückte verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sowohl mit sozialrevolutionären Intentionen wie auch aus folkloristischen Interessen. Der Ausdruckstanz etwa einer Isadora Duncan eröffnete revolutionäre Möglichkeiten auch für die Welt des Balletts, und insbesondere Mikhail Fokine setzte Massstäbe mit seinem Interesse an emotionaler und gestischer Authentizität auch im Tanz – eine Entwicklung, die schließlich ihren künstlerischen Höhepunkt 1913 in Sergei Diaghilevs and Igor Stravinskys Le sacre du Printemps finden sollte, eine Produktion, die in Zusammenarbeit mit dem Maler, Archäologen und Hobbyethnografen Nikolai Roerich die orientalistische Phantasmagorie einer heidnischen, gewaltsamen, „asiatischen“ Vergangenheit russländischer Kultur imaginierte. Im Vergleich waren Gorskys Adaptionen von LaBayadère – nach 1904 folgten noch drei weitere, zunehmend radikalere Ausgaben bis 1917 – bescheiden, bemühten sich aber nichtsdestoweniger um psychologische und ethnografische Authentizität – und liessen somit das märchenhaft-exotische Ballett zu einer Exposition orientalistischer Grausamkeit indisch-patriarchalischer Despotie erstarren. In dieser Lesart wurde Solors Traumbild des Schattenakts mehr und mehr zur Utopie, zum finalen Ausweg, versinnbildlicht in der Einführung des vermeintlich realistischen Opiumrausches als Auslöser. Folgerichtig sollte schließlich nach dem Sturz des Zarenreiches und der Oktoberrevolution der IV. Akt insgesamt aufgegeben werden – in der neuen Zeit der säkularen, weltrevolutionären Sowjetunion erschien der universalistische Klassizismus des (nun nicht mehr fahlen, sondern weissen) Schattenakts als die geeignetere Apotheose.
3. Sowjetischer Orientalismus
Das multiethnische Erbe des russländischen Reiches stellte eine grosse Herausforderung für die frühe Sowjetunion dar. Nach Revolution und Bürgerkrieg war es Lenin und seinen Kampfgenossen gelungen, weite Teile des alten Zarenreiches wieder zu einem Staatswesen zu vereinigen. Lediglich die Unabhängigkeit der baltischen Staaten, Polens und Finnlands musste akzeptiert werden; dafür gelang es den neuen Herrschern, die zwischenzeitliche Unabhängigkeit der Kaukasusrepubliken, in Belarus und der Ukraine, aber auch in Zentralasien rückgängig zu machen. Nach einer Phase weltrevolutionärer Ambitionen stand seit der Mitte der 1920er Jahre der innere Auf- und Ausbau der nun ihrerseits imperialistischen Sowjetunion im Zentrum der Bemühungen. Nach der Erfahrung zaristischer Unterdrückung erschien hierfür die Förderung regionaler Eigenheiten und Kulturen das erfolgreichere Mittel für den Zusammenhalt. Im Kontext dieser Politik der Korenisazija der 1920er Jahre erschienen traditionelle, nun als exotisierend-verniedlichend wahrgenommene Werke wie La Bayadère als nicht zeitgemäß, das Werk fiel aus dem Repertoire. Erst mit dem Aufstieg Josef Stalins und seiner brutalen Durchsetzung als de facto Alleinherrscher, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen, erfolgte mit der Rückkehr einer Politik der Russifizierung auch im sowjetischen Ballett eine Rückkehr zum vorrevolutionären, imperialen Repertoire. Nostalgie mag hierfür ebenso eine Rolle gespielt haben wie auch das Bedürfnis nach Eskapismus. Während der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, als das Bündnis von Stalins Sowjetunion mit dem eigentlich radikal-antibolschewistischen Dritten Reich Hitler die Triumphe der sogenannten Blitzkriege gegen Polen, Skandinavien, die Benelux-Staaten und Frankreich erlaubte, erfolgte 1941 im ehemaligen Mariinsky-Theater (zu dieser Zeit Kirov-Theater genannt) eine Neueinstudierung, die die Grundlage für die meisten späteren Aufführungen der Bayadère darstellt. Wie viele ihrer Vorgänger behielten die beiden Choreografen Wladimir Ponomarjow und Vakhtang Tchabukiani (der selbst die Rolle des Solor übernahm) die Dekorationen der früheren Fassungen in den ersten beiden Akten bei und verzichteten ebenfalls auf den vierten Akt; neben einigen kleineren Veränderungen wurde insbesondere das pantomimische Element weiter zurückgedrängt und durch rein tänzerische Neuchoreografien ersetzt, etwa im Tanz der Bajaderen oder der Pas de deux für Solor und Nikija. Der Gesamteindruck durch diese Neuerungen reduzierte zum einen die vermeintlich authentisch-ethnografischen Elemente insbesondere der Moskauer Tradition Gorskys; andererseits verschoben sie aber auf einer Meta-Ebene das Gewicht vom märchenhaft-russländischen Eklektizismus der originalen, mehr erzählerischen Petipa-Versionen hin zu einem verstärkten imperial-russischen Narrativ, das in der universalistischen Apotheose des weißen Akts gipfelte.
Das sowjetische Imperium unter Stalin war geprägt von Zentralisierung und Russifizierung, in Jahren des Terrors durchgesett nicht zuletzt gegen soziale und nationale Minderheiten (man denke an den Holodomor in der Ukraine); doch mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, der genozidalen Besatzungspolitik sowie dem heroischen Widerstand mit über zwanzig Millionen Toten (der letztlich im Triumph enden sollte)<s> </s>gewann der sowjetische Staat schließlich auch eine moralische Begründung eigenen Rechts. Die Nachkriegszeit sah eine orchestrierte Verstärkung des kriegsbedingten Sowjetpatriotismus mit stalinistischem Führerkult und der Feier von Autonomie und Stärke. Im Ballett schlug sich dies nieder in verstärkter Hinwendung zu den akzeptierten Klassikern wie Schwanensee und La Bayadère, aber auch in einer Stärkung der Rolle männlicher Tänzer sowie eines athletischeren Bravura-Stils. Besten Ausdruck fanden diese Tendenzen in einer weiteren Hinzufügung, dem Tanz des Goldenen Idols, das 1948 vom Tänzer Nikolai Zubkowsky kreiert wurde. Diese spektakuläre Einlagenummer erscheint zwar zunächst als authentisches 19. Jahrhundert, da sie zu einer Minkus-Komposition getanzt wird; überdies zu einer als „Persischer Marsch“ bezeichneten Musik, deren 5/4-Takt in der Konvention des späteren 19. Jahrhundert als „exotisch“ verstanden wurde. Doch Anlage und Choreografie dieser Nummer, in der ein im goldenen Ganzkörper-Make-up auftretender Starsolist eine athletische Höchstleistung vollbringt, konnte sowjetisch-spätstalinistischer in der Anlage kaum sein. Traditionellerweise hätte die tanzende Statue einer Gottheit einen mehr oder minder ‚authentischen‘ Namen erhalten; die Bezeichnung als „Idol“ entsprach vielmehr dem vorherrschenden sowjetischen Antiklerikalismus. Gleichzeitig betonte die Einfügung einer solchen goldglänzenden und athletisch-sinnlichen ‚falschen Gottheit‘ gerade die exotische, fundamentale Andersartigkeit der Welt dieses indischen Fürstenhofes. Schließlich stellte der athletische, reine solistische Tanz dieser Nummer die wohl weiteste Entfernung von Petipas Pantomime- und Ensemble-orientierten Stil dar, noch verstärkt durch den solitären Auftritt eines Solisten ohne jede Verbindung zur eigentlichen Handlung.
Die mehrfache Fremdartigkeit dieser Nummer, aber auch ihr Attraktivität, liessen das Goldene Idol zu einem besonderen Kristallisationspunkt der weiteren Rezeption der Bayadère werden, wobei imperial-orientalistische Untertöne durchaus eine Rolle spielten. Wie einleitend ausgeführt, war es gerade die Mischung aus sexualisierter Schönheit und Gewalt, die Edward Said als Ausdruck „orientalistischer" Ideologie identifizierte. Das Kostüm des nur leicht bekleideten Tänzers, dessen Körper durch das Ganzkörper-Make-up zugleich verhüllt und offenbart wird, gibt diesem eine stark körperliche, sexuell aufgeladene Präsenz, die durch die Sprünge und schiere Kraft der Choreografie eine durchaus gewaltsame Note erhält. Dies forderte spätere Einstudierungen des Werks zur Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Implikationen ein. Rudolf Nureyev versuchte in seiner spektakulär ausgestatteten Fassung für Paris 1992, die Gewalt von Zubkowskis Choreografie des Goldenen Idols durch eine Petipa-esque Rahmung einzudämmen, als Charaktertanz; wenngleich insgesamt auf der Kirov-Fassung aufbauend, ergab die opulente Pariser Ausstattung von Ezio Frigerio und Franca Squarciapino in dieser Nummer jedoch eine kolonialistische Karikatur schlimmster Sorte, mit jungen Mädchen in blackface und palmenartiger Frisur als Begleiterinnen, deren zumeist kniende Choregrafie letztlich jegliche Grazie fehlte. Eine radikal andere Lösung hatte zwölf Jahre zuvor Natalia Makarova für das American Ballet Theater geschaffen (eine Version, die nachfolgend von zahlreichen anderen -Compagnien wie London oder Mailand übernommen wurde): ausgehend von der Kirov-Fassung hatte sie für diese erste vollständige Produktion der Bayadère außerhalb Russlands insbesondere den vierten Akt radikal neugeschaffen. Hierfür hatte sie das Goldene Idol vom Verlobungsbild im II. Akt an den Beginn des letzten Aktes transferiert und dabei die Begleiter des Solisten gestrichen; durch diesen veränderten, abstrakten Rahmen verlor die Nummer ihren orientalistischen Beigeschmack, wie auch ihre gewaltsame Note eingedämmt wurde, und bekam mehr die Funktion, die finale Apotheose voranzukündigen. Der Nureyev-Schülers Patrice Bart ging für München 1998 einen Mittelweg, abstrahierend, aber in der märchenhaft-exotisierend-japanisierenden Ausstattung von Tomio Mohri: Makarovas Dramaturgie beibehaltend, dafür den Tänzer des Idols mit einer würdigen Begleitung versehend – die in der Wiederaufnahme im Mai 2023, dem 21. Jahrhundert entsprechend, ohne blackface auskam. Die Produktion des Bayerischen Staatsballetts führte gewissermaßen zu den ästhetischen Ursprüngen des Werks zurück, ohne sich in den Untiefen eines kolonialistischen Orientalismus‘ zu verfangen. Und auch die eingangs erwähnte Fassung Nureyev’s erlebte zumindest eine sachte, sensible Veränderung: seit 2021 gibt wird diese Version vom Ballett der Mailänder Scala unter seinem neuen Ballettdirektor Manuel Legris, der selbst in Nureyev’s Bayadère getanzt hatte, gegeben – ohne blackfacing.
4. Der kritische Blick
Die Version, die das Ballett Dortmund dem heute entgegensetzt, führt ein historisches Filmset als Blaupause ein, die einen Blick von außen ermöglicht. Die Beobachtenden am Set werden selbst Teil des Narrativs, das den heutigen Blick aus dem äußeren Außen umso mehr herausfordert und bei aller Schönheit des Tanzes, zum kritischen Beobachten der Vorgänge ermutigt. Und ungeachtet dieser Veränderungen ist die westliche Zivilisation nicht untergegangen.