Der Hetzer
Er hetzt. Gegen seine Mitmenschen. Vor allem gegen Coltello. Denn Coltello ist anders und er ist nicht von hier. Wieso macht er trotzdem Karriere, zieht beruflich an den anderen vorbei und gewinnt zudem die schöne Desirée für sich? Das ist für Jack Natas nicht hinnehmbar und er beginnt eine Intrige, um Coltello zu vernichten. Doch das ist ein gefährliches Spiel, das in einem Strudel von Verleumdung, Eifersucht und Mord endet.
Der renommierte österreichische Komponist Bernhard Lang sorgte 2017 mit einer Überschreibung von Richard Wagners Parsifal für Furore. Nun setzt er sich in einer Auftragskomposition der Oper Dortmund mit Wagners großem Zeitgenossen Giuseppe Verdi auseinander, hier mit seiner Oper Otello. Der Hetzer ist eine Beschäftigung mit dem erschütternden wie zeitlosen Stoff Shakespeares, der musiktheatralen Verwandlung durch den italienischen Komponisten sowie der heutigen politischen Situation, in der die Hetze gegen das Andere keine Ausnahme ist. Deshalb kommen in dieser Oper auch Dortmunder Jugendliche zur Sprache, die mit eigens für das Stück verfassten und als Raps zwischen die Akte gesetzten Texten die thematische Ebene ergänzen. Diese verbindet Bernhard Lang versiert mit seinem eigenen Jazz-inspirierten Kompositionsstil sowie der emotional ergreifenden Klangwelt Giuseppe Verdis.
Erstmalig in Dortmund inszeniert bei dieser Uraufführung die junge Regisseurin Kai Anne Schuhmacher, die auf der Bühne sehr starke Bilder erzeugt und mit ihrer sensiblen und doch zutiefst politischen Herangehensweise das Publikum immer wieder aufs Neue berührt.
Für die Aufführungen des Hetzers sind der Chor der Oper Dortmund sowie die Dortmunder Philharmoniker vorab aufgenommen worden. Doch was als Maßnahme für eine Corona-taugliche Produktion (ursprünglicher Premierentermin: März 2021) angedacht wurde, erwies sich als spannende künstlerische Weiterentwicklung der musikalischen Ebene, indem ein differenziertes, räumlich mehrdimensionales akustisches Konzept erarbeitet wurde.
In Kooperation mit Planerladen e.V. (Jugendforum Nordstadt)
Altersempfehlung: ab 14 Jahren
„Die Oper Dortmund (…) will das Projekt ‚Oper für alle‘ (…) aktiv-kreativ definieren. Dementsprechend übernehmen die Rapper IndiRekt und S.Castro (…) Rollen, die als Brückenschlag zu anderen Publikumskreisen und zum verhandelten ‚Othello‘-Stoff fungieren sollen. In einer sozio-kulturellen Stadtteil-Schreibwerkstatt entstanden zuvor Texte von Jugendlichen zu den zentralen Themen des Vorwurfs: Liebe, Eifersucht, Bosheit, Hass, Ehrgeiz, Täuschung. In Rap-Rhythmus übersetzt (und scharf pointiert als Spiegelungen von Ot(h)ello und Jago vorgetragen), treffen sie den aktuellen Kern und entsprechen den Intentionen des Komponisten, der diese ‚Zwischenakte‘ für jede Produktion neu aus der aktuellen lokalen Situation heraus geschrieben wissen will.
Regisseurin Kai Anne Schuhmacher ist klug genug, das Gute nicht plakativ gegen das Böse auszustellen. Ihre bildmächtige Inszenierung bleibt im Kern abstrakt und so offen vielseitig wie Bernhard Langs Komponieren.
(…) David DQ Lee ist auch sängerisch ein wendiger Spielmacher und scharfer Kontrast zum erdig-schweren, machtvoll aufdrehenden Bariton von Mandla Mndebele, der Otello/Coltello mit authentischer Kraft ausstattet. Schneeweiß wie ihr Brautkleid: Álfheiður Erla Guðmundsdóttir als Desirée, markant Fritz Steinbacher als Mark kessler/Cassio, nachdrücklich präzise Hyona Kim als Emily. Gesungen wird in Dortmund auf durchgehend hohem Niveau.“
„Grundlage ist der ‚Othello‘, das Stück von William Shakespeare, das von Giuseppe Verdi zur Oper verarbeitet wurde. Allerdings hat der Komponist und Textdichter Bernhard Lang die Namen der Figuren verändert. (…) Der Clou dieser Fassung: Coltello und Natas haben Bühnen-Doppelgänger, nämlich die beiden Rapper InDirekt und S. Castro. Wenn sich Coltello und Natas gesanglich duellieren, machen die Rapper einen Battle daraus. Sie schlagen sich verbal ihre Argumente um die Ohren. (…) Was sie zu sagen haben, ist allerdings interessant. Sie spiegeln das Lebensgefühl der Abgehängten von heute. (…)
Für die Opernpartien hat das Theater Dortmund perfekte Besetzungen gefunden. Der Bariton Mandla Mndebele verkörpert Othello-Coltello stimmlich wie körperlich mit gewaltiger Energie. (…)
Viele Verdi-Arien hat der Komponist mit jazzigen Rhythmen unterlegt und mit sanften Dissonanzen angereichert. Opernfans erkennen die Melodien, zugleich rückt sie das neue Arrangement in die Gegenwart. (…)
Musikalisch funktioniert der Abend ausgezeichnet.“
„Gleichwohl sind umfangreiche stadtgesellschaftliche Initiativen ein Kern der Dortmunder Opernarbeit und weit mehr als nur herkömmliche Kinder- und Jugendaktivitäten. Der Oper den Nimbus des Elitären zu nehmen und ihre Gegenwärtigkeit in vielen Gesellschafts- und Bürgerschaftsschichten aktiv begreifbar zu machen: Das ist ein beispielhaft ehrgeiziges Programm.
Die Story selbst, von Regisseurin Kai Anne Schuhmacher und ihrem Ausstatter- und Videoteam aufwendig und bildmächtig, dabei mit wenigen zeichenhaften Versatzstücken klar illustriert, folgt Verdis dramaturgischer Anordnung und verweist auch auf das zugrunde liegende ‚Original‘ von Shakespeare. Akzentverschiebungen sorgen dennoch für eine neue Gewichtung. (…)
Joe Coltello (also Otello) ist ein aus einem Seesturm geretteter farbiger Flüchtling. In Gestalt und majestätischer Baritonstimme ist er bei Mandla Mndebele eine authentische Figur. Er (erg. Jack Natas/Jago) wird zum intriganten fremdenfeindlichen Hetzer, was durch die Stimmlage der Rolle noch einmal übersteigert wird. David DQ Lee ist ein wendig mephistophelischer Counter von bestechender Ausdrucksintensität. Dass er statt seines Verdischen Credo eine Nummer singt, die auf Purcell Bezug nimmt, die klirrend dissonante ‚Kälte‘-Arie aus ‚King Arthur‘, die wiederum durch den ‚Cold Song‘ von Klaus Nomi popkulturell populär geworden ist, passt übrigens perfekt zu Bernhard Langs Überschreibungstechnik.(…)
Die entschiedene Abweichung vom Opernoriginal geschieht am Ende. Otello/Coltello (so heißt im Italienischen übrigens das Messer) bringt nicht Desdemona/Desirée um, sondern begeht Selbstmord. Er sieht seine Situation als ausweglos. Die politischen Aussagen über Ausgrenzung, Verfolgung, Manipulation, Verhetzung als Movens für die Neubewertung des Stoffs und den Impuls für Bernhard Langs Oper werden dadurch ein letztes Mal zugespitzt. Und sie erhalten aktuelle, direkte Nahrung durch offene Einschübe zwischen den Akten, von denen der Komponist sich wünscht, dass sie von Aufführungsort zu Aufführungsort aus der jeweils lokalen Szene heraus neu geschrieben werden. In Dortmund wählte man die Form des politischen Rap. Er passt in seiner rhythmisch-melodischen Struktur übrigens hervorragend zu Bernhard Langs treibenden Loops, (…)
Gleichwohl sind umfangreiche stadtgesellschaftliche Initiativen ein Kern der Dortmunder Opernarbeit und weit mehr als nur herkömmliche Kinder- und Jugendaktivitäten. Der Oper den Nimbus des Elitären zu nehmen und ihre Gegenwärtigkeit in vielen Gesellschafts- und Bürgerschaftsschichten aktiv begreifbar zu machen: Das ist ein beispielhaft ehrgeiziges Programm.“
„Schuhmacher inszeniert mit großer Klarheit, mit direkter, nicht selten origineller Personenführung und einfachen, so sinnlichen wie signifikanten Gruppenbewegungen. (…) Bernhard Lang hat tatsächlich Verdis vorletzte Oper überformt, wobei auch deren Vorlage, Shakespeares Stück, eine Rolle spielt. Die Musik schillert vielfältig, bleibt oft eng bei Verdi, bricht aber auch mal in die Gegenwart oder die britische Renaissance aus, kombiniert das große Orchester mit Elektronik, lässt aber auch einfach mal die Harfe zirpen. Für seinen deutschen Text verwendet Lang kurze Sätze, oft nur aus drei bis fünf Worten, und lässt diese häufig wiederholen. Das erzeugt zweierlei: große Verständlichkeit der Handlung und aggressive Grundstimmung. (…) Jack Natas, die Jago-Figur mit dem fast kindlichen Palindrom-Namen (Natas/Satan) ist hier das Böse an sich, ein Hetzer aus reiner Lust an der Hetze, der zudem in Gestalt von David DQ Lee in der Counterlage singt, mit erotischer Verführungskraft. (…) Ihm steht ein Bariton-Coltello gegenüber, dem Mandla Mndebele stimmlich sehr männlich gefärbte Urkraft mitgibt, die aber sonderbarerweise seine Verletzlichkeit auf der Bühne zu erhöhen scheint. Überhaupt wird sehr gut gesungen. Ein wenig spröde, aber mit sehr schöner Linienführung von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir als Desdemona, hier: Desiree. (…) Und es gibt noch eine zusätzliche Verlängerung ins heute. Die Zwischenakte werden von den Rappern InDirekt und S.Castro gestaltet, der eine eine Parallelfigur zu Coltello, der andere zu Natas. Ihre Texte entstanden in Schreibworkshops des Planerladen e.V. (Jugendforum Nordstadt) und sollen nach dem Willen des Komponisten, wo immer das Stück nachgespielt wird, möglichst am neuen Ort neu entstehen. Die Texte der Raps nehmen Themen, Beziehungen, Haltungen und Tendenzen aus dem Stück reflektierend auf und gewinnen eigene Haltungen daraus, die sie an zwei Stellen auch gegeneinanderstellen, und zwar nachdenklich, keinesfalls aggressiv. (…)
So entstehen von Kai Anne Schuhmacher puristisch aber nicht lieblos inszenierte Ruhepunkte, die der gerafften, um Richtung bemühten Stücküberschreibung an Direktheit überlegen sind. Und so vielleicht auch für junge Menschen, bildungsnahe wie bildungsferne, ein Türchen öffnen können, sei es nun ins Stadttheater oder auch in die klassische Literatur oder Musik. Dass dieser Weg so gelassen beschritten, diese Karte so unprätentiös gespielt wurde, ist vielleicht die größte Stärke dieses ungewöhnlichen Theaterabends.“
„Anders als in der Vorlage ist er die Hauptperson, der ‚Hetzer‘. Die Rolle ist komponiert für einen Countertenor, was für eine moderne Oper ungewöhnlich ist. Jack zählt damit zu einer Minderheit genau wie der Mann, den er zerstören will. David DQ Lee gibt einen perfide-penetranten Bösewicht und meistert die schwierigen Intervallsprünge in seinen Arien, die immer wieder an Purcells berühmten ‚Cold Song‘ erinnern.
Die Musik von Bernhard Lang orientiert sich stark an Verdi, klingt aber insgesamt viel kleinteiliger. Der Komponist hat viel Erfahrung mit dem Überschreiben von Musik: (…) Lang arbeitet wie ein Maler, der über ein schon vorhandenes Bild malt. Er trägt mal mit dickem Pinsel und kräftigem Strich, mal ganz zart und fein, neue Schichten auf: Akkorde, komplizierte Schlagzeugrhythmen oder eine andere Besetzung. Die Vorlage scheint aber immer durch das Neue hindurch.
Am krassesten ist der Bruch aber in eingeschobenen Szenen, in denen Doppelgänger von Jack und Coltello auftreten. Sie performen Deutschrap. Die Texte stammen aus einer Kooperation der Oper mit dem Planerladen e. V. in der Dortmunder Nordstadt: In einer Schreibwerkstatt haben 16 Jugendliche Texte zu den Themen der Oper wie Hass, Eifersucht oder Manipulation verfasst. Auf deren Basis haben die Dortmunder Rapper IndiRekt und S.Castro zu Beats des Komponisten ihre Lines geschrieben.“
„Komponist Bernhard Lang zeigt mit einer Überschreibung von Verdis Eifersuchtsdrama, wie Oper heute funktionieren kann – für junges Publikum und für das ältere. Beide Gruppen waren nach der Uraufführung des 100 Minüters am Sonntagabend im Opernhaus begeistert. (…) Der 64-jährige Österreicher hat wunderbare Musik komponiert. Sie ist melodiös, farbig, erzeugt Stimmungen, schwenkt manchmal ins Revuehafte und steht für große Gefühle. (…) IndiRekt und S.Castro sprechen direkt Zuschauer an. Wenn sie rappen ‚Der Hetzer steht in Eurer Mitte. Sag mir, wann Du handeln willst‘ hat das starke Wirkung. (…) Entsprechend fantasievoll, märchenhaft, bunt und launig hat Kai Anne Schumacher inszeniert. Mit einfachen Mitteln schafft sie wechselnde Räume, setzt Videos klug ein und sorgt mit wenigen Bühnenelementen und Theatereffekten für starke, einprägsame Bilder. Mandla Mndebele war mit seinem starken Bariton als Joe Coltrello eine Idealbesetzung. (…) Es gibt nur noch zwei Vorstellungen; diese Oper hat viel Publikum verdient.“
„Gesanglich besticht die Produktion durch ein überragendes Niveau. Mit substanzreichem Bariton und seiner bestrickten Bühnenpräsenz gestaltet Mandla Mndebele die Titelrolle. Mit märchenhafter Anmut und großen lyrischen Qualitäten überzeugt die isländische Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir als Desirée und der Countertenor David DQ Lee stellt stimmlich und darstellerisch einen Ausbund an Verschlagenheit dar.“
„(…) der Countertenor David DQ Lee ist es auch, der die meisten musikalischen Höhepunkte beschwert: Mit makelloser Höhe und einem perfekten Wechsel in die tiefe Lage kreiert er den Jack Natas. Auch Mandla Mndebele überzeugt in der Rolle des Joe Coltello stimmlich wie darstellerisch, mit klangvollem Vibrato und einem sehr präsenten Piano. An seine Seite agiert Álfheiður Erla Guðmundsdóttir als Desirée mit hellem, glockenreinem Sopran, in der Rolle des Mark Kessler ist der stets zuverlässige Fritz Steinbacher zu erleben.“
„Wir hören zwei herausragende Sänger und zwar Mandla Mndebele als Coltello und den südkoreanischen Countertenor David DQ Lee als Jack Natas. (…) Bernhard Lang hat selbst das Libretto geschrieben und teilweise sehr drauf gehauen. (…) Was es gut unterläuft ist, dass Natas eben auch kein Vertreter der weißen Mehrheitsgesellschaft ist, sondern – nicht nur weil er von einem Asiaten gesungen wird – sondern auch durch die Stimmlage des Countertenors. Eigentlich duellieren sich zwei Außenseiter – und auf dieser Ebene ist das Stück interessant – die sich eigentlich auch verbünden könnten. (...) Beide Coltello und Natas werden durch Rapper gedoppelt, IndiRekt und S. Castro. Die Oper (erg. Dortmund) hat mit einer Schreibwerkstatt aus dem Dortmunder Norden zusammengearbeitet. Dort sind Texte entstanden, die die Themen, Hass, Rassismus, Liebe, um die es eben im Otello geht, behandeln und die beiden Rapper haben dann daraus wiederum die Texte für ihre Auftritte gewonnen. (…) Hier kommt auch die Lebenswirklichkeit raus, das Gefühl, eigentlich gar nicht gewollt zu sein, was ja im Coltello selbst erst die Eifersucht und die Bereitschaft, seine Frau anzuzweifeln, auslöst. (…) Dieses Ineinander von Rappern und Opernsängern, funktioniert ausgezeichnet, es scheint wirklich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe gewesen zu sein. (…) Es hat schon viele positive Seiten, es ist ein sehr interessanter Theaterabend.“
„Wer glaubt, man müsse die Othello-Geschichte immer mit demselben Ende erzählen, erlebt in Dortmund eine Überraschung. Am Ende steht die These, dass man sich nicht dem Schicksal ergeben muss, dass die Welt veränderbar ist.“