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„Für das ambitionierte Projekt ‚ICH, EUROPA‘ hat das Schauspiel Dortmund Autoren aus Südeuropa, Nordafrika und dem Nahen Osten gebeten, kurze Monologe über die gemeinsame Geschichte von Abendland und Morgenland zu schreiben. In elf Szenen der Uraufführung kommt zur Sprache, was zurzeit viele bewegt, mal pathetisch, mal ironisch, mal brachial, mal verhalten.
Regisseur Marcus Lobbes spannt die naturgemäß sehr disparaten Texte in den Bogen einer Monologrevue. Vor zwei Projektionsleinwänden auf einem abfallenden Podest (Ausstattung: Pia Maria Mackert) interpretieren die Schauspieler ihre Vorlagen.
Da bekommt die Empörung des algerischen Schriftstellers Yamina Khadra über die ‚monströse Schießbudenfigur‘ im Weißen Haus eine ungewöhnlich poetische Anmutung, denn Alexandra Sinelnikova spricht das zurückgenommen als Wiedergängerin des Kleinen Prinzen vor Sternenhimmel und einer einsamen Rose.
Der brachiale Auftritt von Uwe Rohbeck lässt einen getöteten Krieger im Monolog von Yavuz Ekinci zombiehaft wiederauferstehen, der wortreich den Schmerz und den körperlichen Verfall beschwört.
Uwe Schmieder fordert das Publikum als grau uniformierter Soldat, der Ismail Küpelis Text druckvoll vorträgt, in dem der Mauerfall mit dem Bürgerkrieg gegen die Kurden in der Türkei zusammengebracht wird. Das wird in Dortmund zu szenischem Journalismus: Schmieder trägt die Fakten immer erhitzter, wütender, lauter vor, und die weißen Leinwände füllen sich mit grobkörnigen Fotos, Videos und Zeitungsartikeln.
Björn Gabriel gibt Burhan Qurbanis Fantasie zwischen Mauerfall und Terroranschlag vom 11. September eine traumartige Stimmung.
Ein Höhepunkt ist Bettina Lieders Auftritt als ‚Friedensbraut‘ in Muzaffer Öztürks Stück, einer Erzählung über die italienische Aktionskünstlerin Pippa Bacca, die in den Nahen Osten trampte, um für den Weltfrieden zu werben, und in der Türkei ermordet wurde. Wie Lieder in dieser Figur das Brennen für eine große Idee mit großer Naivität mischt, wie sie sie Philosophin und Kind zugleich sein lässt, das ist mitreißend. Diese Frau in Weiß bringt das Publikum zum Aufstehen: ‚Man muss doch etwas für den Frieden tun…‘
Eindreiviertel Stunden mit richtiger Haltung und mit sehenswerten Momenten.“
„Europa. Ein Kontinent, ein Kulturraum, eine Wertegemeinschaft, eine Idee, ein Traum. Fluchtpunkt für viele, die ein Leben in Sicherheit suchen. Was sie finden, hat mit dem schönen Ideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oft nichts zu tun. Werte wie Toleranz und Menschlichkeit scheinen zu zerbröseln. Scharfmacher schüren die Stimmung gegen Migranten aus Afrika und Nah-Ost, führen Brauchtum und Religion ins Feld, um Muslime als Fremde und Feinde abzustempeln.
Wer sind wir? Was ist der Kitt, der einen Kontinent zusammenhält, der sich gerne als Wiege von Demokratie und Zivilisation sieht? Wie steht es um das Verhältnis von Abendland und Morgenland? Fragen, denen das Schauspiel Dortmund in seiner Produktion ‚ICH, EUROPA‘ nachgeht – die Premiere war am Samstag. Elf Autoren und Autorinnen mit nichtdeutschen Wurzeln schrieben Monologe über ‚ihr‘ Europa. Regisseur Marcus Lobbes setzt sie in Szene und schafft das Bravourstück, einen Abend, der auf dem Papier eine trockene Rezitation ist, Atem und Theaterleben einzuhauchen.
Was auch das Verdienst von Pia Maria Mackert (Bühne und Kostüme) und von Mario Simon (Videos) ist, die dem ganzen starke Bildhaftigkeit verleihen. Die Darsteller verleiben sich die Texte ein und agieren mit so viel Verve und Herzblut, dass man nie das Gefühl hat, sie seien bloß das Sprachrohr der Autoren. Die waren aufgefordert, über den Kontinent und seine Nachbarn nachzudenken, subjektiv aus ihrer Warte, so schonungslos und schmerzhaft das auch sein mag. Einigen hat Bestürzung und Zorn die Fehler geführt, weniger Pessimistische appellieren an uns, europäische Ideale nicht kampflos preiszugeben, andere greifen zum satirischen Spiegel, um Europas eigene Selbstgefälligkeit zu entlarven.
Immer aber gilt: Die Monologe haben Standpunkt und Anliegen, die Autoren etwas zu sagen. ‚ICH, EUROPA‘: Bei Nermina Kukic ist sie eine alte geschundene Frau, verdreckt von Vergewaltigungen, die Kriege auf dem Balkan waren Durchfall und Erbrechen zugleich. Bei Anis Hamdoun unterzieht sie sich einer Gewissensprüfung, mogelt sich aber aus der Verantwortung, als das heikle Thema Palästina aufkommt: habe mir nichts vorzuwerfen. Ismail Küpeli erinnert an Massaker an den Kurden, an Waffen, die an die Türkei gingen, an deutsche Panzer, die jetzt wieder auf Kurden schießen. Uwe Schmieder schleudert die Anklage mit flammender Wut in den Saal. Yavuz Ekinci hält ein Requiem für all die toten ohne Grab, irgendwo hingemeuchelt, während Europa weggeschaut und Sonntagsreden schwingt. Bettina Lieder (wieder mal zum Verlieben) verkörpert Muzaffer Öztürks ‚Friedensbraut‘, einer Aktionskünstlerin, die im Brautkleid Richtung Tel Aviv trampt, um ein Zeichen zu setzen. Sie spricht uns direkt an, die Unschuld ihrer Figur geht ans Herz, als sie singt, steht Poesie im Raum.
Marlena Keil glänzt im Monolog von Tanja Šljivar, die mit Europas Arroganz gegenüber dem Islam abrechnet. Merle Wasmuth spricht für Sudabeh Mohafez, die mal eben das ganze Theater-Projekt in die Tonne kloppt, womit der Stück sich clever hinterfragt und zur Diskussion stellt. Pointiert, meinungsstark, sehenswert!“
„Es ist wieder eine dieser Ideen, die in der Dramaturgie des Schauspiels entwickelt werden, um auf der Bühne neue Denkanstöße zu geben. In diesem Fall wurden elf Autoren gebeten, Monologe zu schreiben über ihre Draufsicht auf Europa und die gemeinsame Geschichte von Orient und Okzident. Jedem dieser Stücke wurde ein Schauspieler zugeordnet, der sich nun hineinversetzen muss in die jeweilige Gefühlslage, sei sie nun ironisch, verhalten oder auch mal brachial. Regisseur Marcus Lobbes weiß sehr wohl, dass ein solch disparater Strauß an Gedanken und Empfindungen kaum zu bündeln ist, weshalb er aus jedem Text ein neues Stück zu formen weiß. Die Ausstatterin Pia Maria Mackert unterstützt ihn dabei durch ein abfallendes Podest, auf dem sich ständig neue Hintergründe auftun.
Der Zuschauer erlebt dabei permanente Abwechslung. Yavuz Ekinci aus Istanbul beispielsweise lässt den Wiedergänger eines gefallenen Kriegers (Uwe Rohbeck) zu Wort kommen, der sich einem Journalisten offenbart. Auch in Ismail Küpelis ‚Nennt mich Ismael‘ kommt ein Soldat (Uwe Schmieder) lautstark zu Wort, der tatsächlich den Fall der Mauer in Einklang bringt mit den Waffen der DDR-Volksarmee. Die leiseren Töne kommen dabei jedoch deutlich intensiver. Etwa bei Yasmina Khadra, dessen Plädoyer für Empathie und Fraternität von Alexandra Sinelnikova eher leise gesprochen wird. Den stärksten Eindruck hinterlässt Bettina Lieder mit ‚Friedensbraut‘ von Muzaffer Öztürk. Als Aktionskünstlerin Pippa Bacca rauscht sie im Hochzeitskleid in den Saal, animiert die Zuschauer zum Aufstehen, will ganz naiv Frieden stiften im Nahen Osten. Und erzählt am Ende, mit Blut am Kleid, auch von dem gewaltsamen Tod in der Türkei.
Es ist mal wieder ein starker Abend am Dortmunder Schauspiel, Applaus ohne Ende. Und eine Überraschung gibt es zum Schluss auch: Autorin Subadeh Muhafez verweigert sich wortgewaltig der Aufgabe. ‚Ich, Europa. Für wen ist das eine Neuigkeit?‘ Und lässt das Schreiben des Theaters durch Merle Wasmuth verbrennen.“