Der Traum der roten Kammer

Hintergründe und Entstehung eines Balletts

Die Geschichte des Steins

Innerhalb der vier klassischen Romane nimmt Der Traum der roten Kammer eine Sonderstellung ein. Die Tugenden des abwechslungsreichen Episodenromans verbindet Cáo Xuěqín mit der getreuen Wiedergabe von Sitten und Bräuchen, errichtet seinem fiktionalen Gebäude aber ein sozialhistorisches Fundament und zieht der linearen Handlung und der Entwicklung seiner Hauptfiguren eine philosophische und religiöse Ebene ein, die die drei metaphysischen Gedankenrichtungen Chinas (Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus) reflektiert.

Während seinen Vorgängern noch Wesensmerkmale der zur mündlichen Rezitation bestimmten Xiaoshuo anhaften, in sich geschlossene und mehr oder weniger lose aneinandergereihte Handlungsabschnitte, die leicht aus dem Gesamtkontext herauszulösen und einzeln vortragbar sind, spinnt Der Traum der roten Kammer ein dichteres Netz von Beziehungen und Bezügen. Die Episode ist fester Bestandteil eines stringenten Handlungsstranges. Wird sie aus der feinverästelten Gesamtkomposition des Werkes extrahiert, verliert sie an Aussagekraft.

Cáo Xuěqíns eigentliche Errungenschaft aber ist die Zeichnung seiner Charaktere. Agierten bislang in der chinesischen Erzählkunst vor allem statische Archetypen, so gestaltet der Autor der roten Kammer seine Personen dynamisch. Sie machen Entwicklungs-, Alterungs- und Verfallsprozesse durch. Ihre Ansichten, Handlungsweisen und Reaktionen verändern sich im Laufe der Geschehnisse, ihre Gedanken- und Traumwelten korrespondieren mit der Außenwelt.

Dies beginnt schon bei der – für den Roman der Ming-Zeit charakteristischen – allegorischen Rahmenhandlung. Bislang eine Exposition in der Göttersphäre (ein Zwist, eine Wette unter den Himmlischen), aus der sich die Mission des irdischen Haupthelden ableitet, überträgt Cáo Xuěqín die Allegorie des Steins und der Blume Purpurperle, der der Stein bei seiner Ankunft auf der Erde begegnet, direkt auf die unglückliche Beziehung von Pao Yü und seiner Cousine Lin Dai Yü: Nicht eine von den Göttern auferlegte Prädestination haben die beiden zu erfüllen, sondern ihr (eigenes) Schicksal auf der Erde — in der „Welt des roten Staubs“ — zu leben.